„Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Und manchmal braucht er Grips und Mut und muss sich ganz schön quälen.“ So begann der Titelsong einer Zeichentrick-Adaption von „Gullivers Reisen“, die in meiner Kindheit als Vorabend-Serie lief.

Pauschalreisende dieser Tage hatten es an ihren Urlaubsorten zwar weder mit Zwergen, noch mit Riesen zu tun, vielfach aber mit aufgebrachten Hoteliers, die sie im Hotel quasi gefangen gesetzt haben, so dass sie sich freikaufen mussten. Ein Schicksal, das bisher nur Extrem-Individualreisende traf, die in arabischen Wüsten Terrorbanden in die Hände fielen. Wie man sieht, kommt mit Verzögerung auch dieses Phänomen im Massentourismus an.

Und viele der Arbeitnehmer ohne schulpflichtige Kinder, die jetzt endlich nach Ende der Sommerferien auch ab in den Urlaub, in südlichen Gefilden die ruhige und günstige Nachsaison genießen und den Sommer verlängern wollten, können ihre Reise gar nicht erst antreten.

Ursache ist aber keine weltweit marodierende Terrorgruppe, sondern die Insolvenz eines großen und traditionsreichen britischen Reisekonzerns und seiner deutschen Tochterfirmen. „Wie das?“, mag sich da manch einer fragen, „ich dachte, das nach immerhin schon 20 Jahren Geltung auch nicht mehr so neue Insolvenzrecht verlangt die Fortführung der Unternehmen? Wieso stellt Thomas Cook dann einfach den Betrieb ein? Macht der insolvente Automobilzulieferer doch auch nicht!“

Das Problem ist ein rein praktisches: Um einen Betrieb nach einem Insolvenzantrag aufrechterhalten zu können, brauche ich drei Dinge:

1. Kunden, die bereit sind, trotz Insolvenz die bestellte Leistung abzunehmen und zu bezahlen;

2. Mitarbeiter, die bereit und in der Lage sind, die notwendigen Tätigkeiten für die Bedienung dieser Kunden auszuführen;

3. Liquidität, um das benötigte Material und die Fremdleistungen für die Auftragsausführung zukaufen zu können.

An allen drei Dingen hapert es typischerweise.

Kunden, die schon bezahlt haben, wollen nicht nochmal bezahlen. Kunden, die noch nicht bezahlt haben, suchen sich lieber ein anderes Unternehmen, das nicht insolvent ist und wo sie größere Sicherheit haben, ihre bestellte Leistung ordnungsgemäß und pünktlich zu bekommen und bei Reklamationen einen Ansprechpartner zu haben, der Abhilfe schaffen kann. Nur wenn ein anderes Unternehmen nicht rechtzeitig liefern kann, halten die Kunden dem insolventen Unternehmen die Stange – nicht aus Überzeugung, sondern notgedrungen.

So passiert es meistens bei Automobilzulieferern in der Insolvenz: Die Automobil-Konzerne mit genau getakteter just-in-Time-Produktion und typischerweise auch nicht ohne weiteres kurzfristig anderweitig erfüllbarer spezieller Anforderungen sind auf die weitere Belieferung durch den insolventen Zulieferer dringend angewiesen. Deswegen rufen sie direkt beim vorläufigen Insolvenzverwalter an und sagen ihm folgendes: „Halten Sie unbedingt die Produktion am Laufen. Wieviel Geld brauchen Sie dafür und wohin dürfen wir überweisen?“ So löst sich dann auch direkt das Thema Nummer 3 – Liquidität.

Ein Reiseunternehmen ist aber kein Automobilzulieferer. Die Kunden sind viele, haben meist schon bezahlt und wollen keinesfalls doppelt bezahlen. Auch treten sie lieber die Reise gar nicht erst an, als zu riskieren am Urlaubsort zu stranden.

Arbeitnehmer werden in der Insolvenz kleiner Handwerksbetriebe oft ein echtes Problem. Die Leistungsträger, die man unbedingt braucht, haben schnell Jobangebote von der Konkurrenz und sind häufig von jetzt auf gleich weg. Mit der verbleibenden „Olympiamannschaft“, also den Arbeitnehmern, für die Dabeisein alles ist, wird es schon zur Herausforderung, die laufenden Aufträge noch irgendwie abzuwickeln, neue kann man auf keinen Fall mehr annehmen, selbst wenn man sie kriegen sollte. Da bleibt dann auch nur noch die Unternehmensschließung.

Bei Thomas Cook sind aber die eigenen Arbeitnehmer gar nicht das große Problem. Es gibt viele davon, sie dürften auch kaum in großen Zahlen so schnell wechseln, weil so stark die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt dann doch nicht ist – schon gar nicht „heimatnah“ – und die Arbeitsentgelte sind über Insolvenzgeld auch bis Ende November gesichert. Blöderweise aber sind bei Thomas Cook keine Piloten, Stewardessen, Köche, Kellner, Zimmerservice-Kräfte und Rezeptionisten beschäftigt, sondern hauptsächlich Reiseverkehrskaufleute, die am Markt Flüge und Hotelbetten einkaufen, zu Paketen zusammenstellen und an Reisewillige weiter verkaufen. Wenn man aber kein Geld hat, kann man nichts einkaufen. Und was man nicht einkaufen kann, kann man auch nicht verkaufen. Und der Hotelier, der nicht bezahlt worden ist, schaut lieber, dass er das Zimmer anderweitig noch verkauft bekommt und notfalls leer stehen lässt, bevor er es einem Thomas-Cook-Kunden gibt, mit dem er Aufwand hat, für den er aber kein Geld bekommt – weder vom Kunden, der ja schon an Thomas Cook bezahlt hat, noch von Thomas Cook, die ja pleite sind.

Was die vielen Reiseverkehrskaufleute bei Thomas Cook also gerade machen, ist einfach mal den Sachstand festzustellen. Welcher Kunde hat wann wo gebucht, welcher Kunde was schon anbezahlt und welcher Hotelier ist, auch wenn ihm alte Rechnungen nicht bezahlt wurden, bereit neue Kunden anzunehmen, wenn ihm die Insolvenzverwaltung dafür die Bezahlung garantiert? Da wird es bestimmt etliche geben, denn ohne Gäste kann man auch kein Hotel betreiben und ohne weiteres kriegt man die ganz so schnell woanders auch nicht her. So findet sich auch der Hotelier oder die Fluglinie im selben Dilemma wieder wie jeder Lieferant eines insolventen Unternehmens: man hat nur die Wahl dazwischen, die bereits erbrachten Leistungen nicht bezahlt zu bekommen, aber wenigstens neue Geschäfte zu machen, oder die bereits erbrachten Leistungen nicht bezahlt zu bekommen und auch keine neuen Geschäfte zu machen. Die meisten entscheiden sich dann doch für das kleinere Übel. Aber erst einmal muss man mit den Leuten halt reden – und gerade als Insolvenzverwalter das Vertrauen aufbauen, dass sie für die Neugeschäfte auch wirklich bezahlt werden. Und dazu muss man sich als Insolvenzverwalter erst einmal sicher sein, die Leistung wirklich bezahlen zu können. Bei einem Geschäft mit einer sehr hohen Anzahl von Kunden, aber jeweils nur sehr geringen Umsätzen dauert eine derartige Planung halt.

Deswegen hatten die vorläufigen Insolvenzverwalter der deutschen Thomas-Cook-Tochterunternehmen zunächst alle Reisen bis zum 13. Oktober abgesagt. Inzwischen haben sie das schon bis zum 31. Oktober verlängert. Ob es danach gelingt, die gebuchten Reisen wieder durchzuführen, dürfte weniger von den Hoteliers und Fluggesellschaften abhängen als davon, ob dann überhaupt noch genügend Gäste mit Thomas Cook reisen wollen oder sich die meisten schon anderweitig orientiert haben. Natürlich müssen die Kollegen aus einer großen Frankfurter Kanzlei, die für die Insolvenzverwaltung zuständig sind, alles versuchen – aber auch die kochen nur mit Wasser und meine Erfahrung als Insolvenzverwalter sagt mir: Das wird nichts, da machen die Kunden nicht mit. Aber warten wir es ab.