Letzten Monat habe ich noch gedacht, mein Beitrag zum Thema Rassismus wäre so ungefähr das politischste und kontroverseste, was ich jemals in diesem Blog schreiben würde. Ich konnte ja nicht ahnen, dass innerhalb weniger Wochen grundlegende Gewissheiten verloren gehen würden. Und dass die größte Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat nicht von der AfD und denen, die sich von ihr in Geiselhaft nehmen lassen, ausginge, sondern von einem winzig kleinen um die Welt gehenden Virus mit dem wissenschaftlichen Namen SARS-CoV-2, besser bekannt unter dem verkürzenden Schlagwort „Corona“.

Manche glauben ja, dieses Virus sei nicht schlimmer als eine Grippe und die ganzen massiven Einschränkungen, ja Disruptionen des Lebens, wie wir es bislang gekannt haben, völlig unnötig. Es grassieren sogar krudeste Verschwörungstheorien, angefangen von einem schief gegangenen militärischen Experiment bis hin zu einer gezielten Übertreibung der Pharmaindustrie, um aufwändige und teure Prüfungsverfahren für Medikamente und Impfstoffe umgehen und Produkte, die nicht nur unsinnig, sondern auch gefährlich seien, zu horrenden Preisen auf den Markt werfen zu können. All dies ist nicht nur völlig hanebüchener, sondern auch gefährlicher Unsinn, weil er vom eigentlichen Problem ablenkt. Und das liegt ganz woanders.

In einer bislang beispiellosen Geschwindigkeit hat die Regierung mit Zustimmung aller Parteien und ohne nennenswerte öffentliche Gegenrede elementare Grundrechte in einer Art und Weise eingeschränkt, die bis vor kurzem noch undenkbar erschienen wäre und der jedenfalls jahrelange Diskussionen in Parlamenten und Öffentlichkeit voraus gegangen wären. So hat man ungeduldigen Jugendlichen von „Fridays for Future“, die nach einem Jahr Demonstrieren frustriert waren, dass ihr Engagement zwar viel gelobt wurde, ihre Forderungen aber wenig Eingang in praktische Politik fanden, mit erhobenem Zeigefinger darüber belehrt, dass Wut und Panik schlechte Ratgeber seien und in einer Demokratie nun mal verschiedene Interessen abgewogen werden müssen. Das brauche seine Zeit und nichts könne sich komplett durchsetzen. Moralischer Rigorismus in der Art, dass durch den Klimawandel doch der Untergang jeglicher Zivilisation drohe, könne und dürfe nicht dazu führen, dass dessen Vermeidung als Ziel so absolut gesetzt werde, dass sich dem alles andere unterordnen müsse und individuelle Rechte und demokratische Abwägungen nichts mehr gälten. Von einzelnen Kolumnisten wurde gar diesen Jugendlichen vorgeworfen, mit ihrem Absolutheitsanspruch Demokratie und Grundrechte zu gefährden.

Die Pandemie ist Klimawandel im Zeitraffer. Beim Klimawandel spricht die Wissenschaft von „Kipp-Punkten“, nach deren Erreichen eine unkontrollierbare Dynamik einsetze, die nicht mehr beeinflusst werden könne. Bei der Pandemie ist der Kipp-Punkt das exponentielle Wachstum, das wenn es nicht gestoppt oder mindestens deutlich verlangsamt wird, zu einer so rasanten Vermehrung der Zahl der Infizierten führt, dass die Anzahl der Fälle mit schwerem Verlauf die Kapazitäten unseres Gesundheitssystems übersteigt. Wenn dann nicht mehr alle, die behandelt werden müssten, auch behandelt werden könnten, würde nicht nur die Anzahl der auf Corona zurückzuführenden Todesfälle drastisch steigen, sondern wäre auch die adäquate Versorgung von Herzinfarkt- Und Schlaganfallpatienten sowie Schwerverletzen nicht mehr gewährleistet.

Diesen Kollaps gilt es nun, unter allen Umständen zu verhindern. Und auf einmal sind die, die einem 16jährigen Mädchen letztes Jahr noch Undankbarkeit und überzogenen Alarmismus vorgeworfen haben, weil es gewagt hatte auszurufen „I want you to panic“ und „How dare you!“, die zum einen Panik verbreiten, zum anderen jeden, der mal zaghaft fragt nach Grundrechten und Verhältnismäßigkeit zu fragen, scharf zurecht weisen, wie er denn wagen können in einer so existentiellen Situation, in der es um Leben und Tod ginge, mit „juristischen Spitzfindigkeiten“ zu kommen.

Und abzuwägen gäbe es da sowieso nichts. Was sind schon ein paar wirtschaftliche Einbußen, die der Staat dank solider Haushaltspolitik der vergangenen Jahre locker abfangen und großzügige „Rettungsschirme“ für Unternehmen wie für Menschen in wirtschaftlicher Not aufspannen könne, wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen? Und was sind schon ein paar Unannehmlichkeiten, wie dass man halt nur noch alleine oder im Familienverbund die Wohnung verlassen könne, draußen nicht unnötig verweilen dürfe (schon gar nicht in Gesellschaft mit anderen) und nicht mehr Party machen und seine Freunde nur noch im Video-Chat treffen kann, gegen das ansonsten bevorstehende Massensterben? Das sagen teilweise dieselben Menschen, die Greta Thunberg noch vor wenigen Monaten mangelndes Demokratieverständnis vorgeworfen haben, weil sie die Frage aufgeworfen hat, was denn Wohlstand und Profit seien gegen die Lebenschancen der jungen Generation weltweit. Vielleicht liegt das Verständnis der unterschiedlichen Sichtweisen darin, dass es jetzt nicht um die Lebenschancen der jungen Generation weltweit, sondern der älteren hier im Land geht, der man sich als Politiker natürlich näher fühlt.

Um es ganz klar zu sagen: Ich halte die Reaktionen auf die Pandemie keineswegs für übertrieben oder gar falsch, sondern zum jetzigen Zeitpunkt für absolut notwendig und unbedingt geboten. In einer Situation, wo die Politik noch nicht alle Informationen haben kann, aber eine sehr konkrete Bedrohung für hunderttausende von Menschen im Raum steht, erst einmal eine Vollbremsung einzulegen, um sich Zeit zu verschaffen, war die einzige Möglichkeit und völlig richtig. Und dass dabei vielleicht nicht alle rechtlichen Feinheiten beachtet und Ermächtigungsgrundlagen im Infektionsschutzgesetz allzu weit ausgelegt wurden, mögen Rechtsprechung und Rechtsprofessoren im Nachhinein aufarbeiten. Jetzt muss diese Zeit aber genutzt werden, um breit öffentlich zu diskutieren, wozu die getroffenen Maßnahmen dienen sollen, wie lange man sie aufrechterhalten kann oder auch muss und welche anderen Systeme wir bereit sind – angefangen beim Wirtschaftssystem über das Bildungssystem bis hin zum Sozialsystem – wie stark zu belasten oder auch zu überlasten, um auf jeden Fall das Gesundheitssystem leistungsfähig zu halten.

Bei der jetzt vorzunehmenden Abwägung geht es keineswegs nur um Wirtschaftsinteressen oder irgendwelche Annehmlichkeiten einer vermeintlichen Party-Generation. Vielmehr geht es darum, dass eine Politik, die das öffentliche Leben weitgehend lahmlegt und die Wirtschaft massiv beeinträchtigt, nicht nur Gefahren für Leib und Leben durch die Pandemie verringert, sondern umgekehrt auch selbst Gefahren für Leib und Leben schafft – je länger sie andauert, desto mehr und intensiver. Häusliche Gewalt steigt an, Armut und Unsicherheit führt zu erhöhter Sterblichkeit und auch aus planbaren und jetzt verschobenen Operationen werden irgendwann Not- und in der Konsequenz auch Todesfälle. Alte Menschen sterben nicht nur an der durch das Virus verursachten Lungenkrankheit Covid-19, sondern aufgrund der sozialen Isolation auch im Wortsinne an gebrochenen Herzen. Zu ersticken, weil kein Beatmungsgerät zur Verfügung steht, ist unwürdig, alleine zu sterben, weil die Angehörigen nicht mehr kommen dürfen, aber auch.

Die wichtigste Begründung, warum wir so massive Einschränkungen brauchen, wie wir sie aktuell haben, ist ja, dass wir Zustände wie in Italien, Frankreich, Spanien und jetzt auch den USA unbedingt vermeiden wollen, in denen Ärzte entscheiden müssen, welcher von mehreren todkranken Patienten noch die besten Überlebenschancen hat und das einzige verfügbare Beatmungsgerät bekommt, während die anderen sterben müssen. Es soll nicht dazu kommen, dass man eine Altersgrenze festlegen muss, bei deren Überschreiten Menschen grundsätzlich nicht mehr geholfen wird, um die begrenzten Kapazitäten für die Jüngeren und vermeintlich „Nutzbringenderen“ verwenden zu können. Und natürlich muss dies das Ziel sein. Aber die Frage, welche Mittel man eigentlich einsetzen darf und welche Kollateralschäden man in Kauf nehmen will, um dieses Ziel zu erreichen, muss nicht nur gestellt werden dürfen – sie muss auch in Politik und Öffentlichkeit breit diskutiert und eine Antwort gefunden werden. Und sie spitzt sich nun einmal zu auf die Frage: „Wie viele Lebensrisiken für Menschen, die mutmaßlich nicht von Corona betroffen wären, darf man in Kauf nehmen und ihnen zumuten, um die Überlebenschancen derjenigen, die künftig von Corona betroffen sein könnten, zu erhöhen?“

Diese Frage ist unangenehm, und nach meiner Wahrnehmung weicht die Politik ihr aktuell noch aus. Mutmaßlich weil man den Menschen keine falsche Hoffnung auf eine zu schnelle Lockerung der derzeitigen massiven Einschränkungen machen will, um kein Vertrauen zu verlieren, wenn man diese dann nicht erfüllen kann. Vielleicht auch, weil man befürchtet, dass sich viele Menschen jetzt schon nicht mehr an die Kontaktverbote halten würden, wenn sie den Eindruck hätten, dass diese ohnehin bald aufgehoben würden und folglich nicht so wichtig sein könnten. Oder auch in der Hoffnung und Erwartung, dass die Medizin in einigen Wochen eine medizinische Lösung präsentieren kann, die es erlaubt, die Maßnahmen zu lockern, ohne das Gesundheitssystem zu überlasten.

Das ist menschlich verständlich. Aufrichtig und demokratisch ist es aber nicht. Die Politik darf nicht auf die Wissenschaft starren in der Hoffnung auf eine Lösung, sondern muss sich der existentiellen Frage stellen, was man denn macht, wenn es nicht gelingt, dass die Neuinfektionsrate kurzzeitig drastisch zurückgeht, wenn kein Medikament schnell zur Verfügung steht und eine Impfung auf lange Zeit noch nicht. Und so wie die Politik der Bevölkerung zumutet, die drastischen Beschränkungen ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit auszuhalten, muss sie ihr zumuten, diese Diskussion auszuhalten. Deswegen darf sie nicht hinter verschlossenen Türen geführt werden, so dass sich der aufrechte Demokrat fragt, ob sie denn überhaupt geführt wird und deshalb dürfen Journalisten und auch Menschen wie ich, die diese Frage aufwerfen, nicht als „vaterlandslose Gesellen“ und Verweise auf Demokratie und Grundrechte nicht als „juristische Spitzfindigkeiten, die in Notsituationen nur hinderlich seien“ abqualifiziert werden, wie das verschiedentlich leider passiert. Der Rechtsstaat ist keine Schönwetterveranstaltung. Gerade in der Krise muss er sich bewähren und ein verlässliches Bollwerk darstellen dagegen, aufgrund einer Notsituation einfach erstmal alles zu machen, was irgendwie helfen könnte, ohne über die Konsequenzen nachdenken und darüber diskutieren zu müssen oder auch nur zu dürfen.

Und eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste Prinzip des liberalen Rechtsstaates ist es, dass Leben nicht gegen Leben aufgewogen werden darf, weder in Bezug auf die Anzahl der betroffenen Leben und schon gar nicht in Bezug auf die Qualität, also ob alt oder jung, gesund oder krank, deutsch oder ausländisch. Deswegen will man ja die die Situation vermeiden entscheiden zu müssen, wenn man beatmen kann oder nicht – zu Recht! Aber man darf eben diese Situation nicht vermeiden um den Preis, dass die Lebensrisiken anderen Menschen durch einen längeren Shutdown massiv und längerfristig erhöht werden. Das muss die Politik im Blick behalten, und daran müssen sie Journalisten und Bürger immer wieder erinnern.

Genauso wenig, wie die Entscheidung, wer von mehrere Menschen, die ein Beatmungsgerät brauchen, an das einzige noch zur Verfügung stehende Gerät angeschlossen wird, den diensthabenden Arzt in der Notaufnahme eines Krankenhauses treffen sollte, sollte es einen einfachen Verwaltungsrichter treffen, über die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen der Politik in dieser Krise entscheiden zu müssen und sich dem Vorwurf auszusetzen, egal wie er entscheidet Menschenleben zu gefährden mit entsprechenden Folgen nicht nur für seine Karriere, sondern evtl. auch für seine Familie und sich persönlich. Dem Arzt kann die Politik so eine Entscheidung vielleicht nicht immer abnehmen – beim Richter sollte sie das aber schon, indem sie die gebotenen Abwägungen rechtzeitig, transparent und zutreffend vornimmt und nicht den einzelnen Richter in die Situation bringt, rechtsstaatliche Grundprinzipien gegen einen abweichenden politischen Krisen-Konsens durchsetzen zu müssen.