Vor gut 20 Jahren habe ich auf einer internationalen Konferenz in Cannes ein Verhandlungsseminar besucht. Der Trainer stammte aus Venzuela und war ein versierter Verhandler mit Geiselgangstern und Terrorgruppen. Ein Satz von ihm blieb mir in nachhaltiger Erinnerung, weil ich den in vielen anderen Seminaren so deutlich nie mehr gehört habe:
„Wenn Sie mit jemandem verhandeln wollen, müssen Sie akzeptieren, dass derjenige für das, was er tut, aus seiner Sicht einen legitimen Grund hat. Sie müssen diesen Grund nicht legitim finden, Sie können den sogar verdammen, aber Sie müssen akzeptieren, dass Ihr Gegenüber glaubt im Recht zu sein. Wenn Sie nicht akzeptieren können, dass jemand, der einen Kindergarten besetzt hat und damit droht jede Stunde ein Kind zu erschießen, aus seiner Sicht das Recht dazu hat, können Sie mit dieser Person nicht verhandeln!“

Das ist natürlich ein Extrembeispiel, mit dem man es zum Glück in der deutschen anwaltlichen Praxis nicht zu tun hat. Aber gerade Extreme taugen immer gut dazu, sich grundlegenden Prinzipien klarzumachen. Und das grundlegende Prinzip, das dieser venezuelanische Trainer so drastisch klarmachen wollte, ist eben: Egal wie sehr man selbst die Einstellung und die Position seines Gegenübers verabscheuen mag, man muss akzeptieren, dass er glaubt im Recht zu sein. Und nur wenn man ihm auf dieser Ebene begegnet, kann man mit ihm zu einer Vereinbarung kommen.

Die erste Frage ist natürlich, ob man das überhaupt will. Und der Maßstab dafür ist, ob eine Einigung einem selbst Vorteile gibt. Die Frage ist also: Was kann ich ohne Einigung aufgrund der Rechtslage, der tatsächlichen Möglichkeiten und mit vertretbarem Aufwand durchsetzen? Oft ist das nicht alles, was ich gerne hätte.

Wenn ich also mehr erreichen will, geht das nur, wenn ich mich mit meinem Gegenüber einige. Und das wiederum kann ich nur, wenn der andere auch einen Vorteil davon hat. Wenn ich also von jemand anderem etwas will, ist immer die Frage: Warum sollte er tun, was ich möchte? Was kann ich ihm dafür anbieten? Und dazu muss ich wissen, was seine Position ist, was er will und wie seine Möglichkeiten sind sich durchzusetzen, wenn wir uns nicht einigen.

Und an dem Punkt wird es für viele Mandanten schwer. Sie glauben ja, einen Anspruch auf etwas zu haben. Dass es schlicht und ergreifend Recht und Anstand entspräche, wenn der andere ihnen gibt, was sie wollen. Das mag ja sein – nur muss man eben, und da sind wir beim Ausgangspunkt, akzeptieren, dass der andere das ganz anders sieht und seinerseits glaubt, mir nichts geben zu müssen, sondern ganz im Gegenteil noch etwas von mir zu bekommen.

Und dann kommen so Fragen auf wie: „Warum sollte ich diesem unmöglichen Menschen, der seit Jahren schlechte Arbeit leistet und dabei noch frech ist und mich ärgert, dafür noch eine Abfindung bezahlen?“ Nun ja, weil dieser besagte Arbeitnehmer seinerseits glaubt, in Ihnen einen ganz unfairen Chef zu haben, der viel zu viel verlangt, nie mit etwas zufrieden ist und dann noch unfreundlich. Und Sie eben akzeptieren müssen, dass dieser Arbeitnehmer Sie als seinen Chef genau so wahrnimmt, auch wenn Sie selbst das nicht nachvollziehen können und ein ganz anderes Bild von sich haben. Empörung ist da zwar verständlich, hilft aber nicht weiter – beiden Seiten nicht.

Tatsächlich ist es für den Chef besser, einem Mitarbeiter, über den er sich nur noch ärgert, eine Abfindung zu bezahlen, als ihm bis zur Rente Gehalt zu bezahlen dafür, dass er den Chef ärgert, aber – aus dessen Sicht – nichts sinnvolles macht. Und für den Mitarbeiter ist es besser, dieses Geld zu nehmen und sich einen anderen Arbeitsplatz zu suchen, als dort weiter zu arbeiten, wo er weiß, dass man ihn nicht mag, seine Leistung nicht schätzt und ihn – aus seiner Sicht – mies behandelt.

Dazu müssen beide über ihre Schatten springen und jeweils einen Teil ihres Stolzes aufgeben. Deswegen ist eine häufig gehörte Phrase von Richtern, die Parteien zum Vergleich motivieren wollen – wovon auch der Richter was hat, weil dann der Fall abgeschlossen ist und er sich nicht länger damit befassen muss – dass ein Vergleich nur gut sei, wenn er „beiden Seiten weh tue“. Da ist etwas Wahres dran – richtig ist aber auch, dass der Vergleich noch besser ist, über den sich beide Seiten freuen. Aber letztlich ist mir ja egal, ob der Gegner sich freut, weil er glaubt mich über den Tisch gezogen zu haben oder jammert, weil er sich ursprünglich mehr erhofft hatte und dann erkennen musste, dass es ohne Einigung womöglich noch schlimmer für ihn kommt – wichtig ist doch, das bestmögliche für den eigenen Mandanten herausgeholt zu haben. Dafür kämpfen wir – immer mit Entschlossenheit, manchmal mit Härte, aber oft auch mit Freundlichkeit und Verständnis für die Bedürfnisse des Gegners. Denn noch eines gab mir der venezuelanische Trainer mit auf den Weg: „Eine geballte Faust öffnet man am besten mit einer ausgestreckten Hand“. Und aus inzwischen jahrzehntelanger praktischer Erfahrung kann ich sagen: Das funktioniert zwar nicht immer, ist aber fast immer einen Versuch wert.