„Recht haben und Recht bekommen ist zweierlei“ oder auch „wir haben nicht Recht bekommen, sondern ein Urteil“, sind übliche Stoßseufzer von Leuten, die sich aus irgendeinem Grund vor Gericht wiederfanden. Oder auch „Recht und Gerechtigkeit haben nichts miteinander zu tun.“ Sind unsere Gerichte wirklich so schlecht und wirklichkeitsfern? Mitnichten, im internationalen Vergleich ist unser Rechtssystem sogar sehr gut, schnell und berechenbar. Woher also dann dieser Frust?

Zunächst ist es ja einfach so, dass es zu einem Zivilprozess oder auch zu einem arbeitsgerichtlichen Verfahren nur dann kommen kann, wenn zwei Parteien jeweils anwaltlich beraten der Meinung sind, dass sie jeweils Recht haben. Da aber nun einmal nicht wirklich beide völlig Recht haben können, muss das Gericht zwangsläufig mindestens einen der Kontrahenten enttäuschen. Häufig werden auch beide enttäuscht, wenn das Gericht zum Ergebnis kommt, dass zwar beide ein bisschen Recht haben, aber keiner so ganz, wie er sich das vorgestellt hat. Der oder die Unterlegenen sehen aber deswegen ja nicht plötzlich ein, dass sie die ganze Zeit daneben lagen – im Gegenteil, sie erzählen im Bekanntenkreis und am Stammtisch, dass die Welt generell schlecht sei und insbesondere deutsche Gerichte völlig lebensfremd und willkürlich urteilen würden.

Das nächste ist: Die meisten Leute glauben nicht, dass sie über Krankheiten und deren Behandlung mehr wissen als ihr Arzt oder über Statik und Bautechnik mehr als ihr Architekt. Aber von Recht und Gerechtigkeit hat jeder eine Vorstellung und auch Gesetze kann ja jeder lesen. Dass wenn Menschen vier bis fünf Jahre studieren und anschließend noch zwei Jahre praktische Ausbildung machen müssen, bevor sie auch nur anfangen dürfen in einem juristischen Beruf zu arbeiten, die Materie wohl doch etwas komplizierter ist, wird völlig ausgeblendet.

Und dann kommt noch eines hinzu: Wenn mehrere Rechtsanwälte, Richter, Staatsanwälte, Verwaltungsjuristen etc. über mehrere Monate hinweg sich mit einem Fall beschäftigen, Berge von Akten wälzen, hunderte von Seiten an Schriftsätzen austauschen, tagelang verhandeln, dutzende Zeugen und Sachverständige anhören etc. etc., meint der Rest der Republik das Urteil anhand eines dürftigen Zeitungsartikels beurteilen zu können. Da weiß dann zwar kein Mensch, worum es genau gegangen ist und über wen da geurteilt wurde, aber dass halt mal wieder ein böser Vergewaltiger oder auch ein gieriger Konzern viel zu billig davongekommen ist, das meint man genau zu wissen.

Dass bei mehreren hunderttausend Urteilen pro Jahr auch ein paar Fehlurteile dabei sind, ist schlicht und ergreifend menschlich. Wo gearbeitet wird, passieren Fehler, aber die sind nicht typisch für das Rechtssystem, genauso wenig wie Kunstfehler typisch sind für Ärzte oder Baumängel für Handwerker. Und durch Rechtsmittel und Wiederaufnahmeverfahren verfügt die Justiz über eine große Fähigkeit zur Selbstkorrektur, die größten Fehlurteile sind ja nur deswegen überhaupt bekannt geworden, weil andere Gerichte sie wieder aufgehoben haben. Ärgerlich und peinlich ist manchmal das Verhalten der ursprünglich beteiligten Richter, die irgendwelchen Umständen die Schuld geben anstatt einzuräumen, dass sie sich schlicht und ergreifend geirrt haben und daraus für die Zukunft zu lernen. Aber das war zumindest bis vor kurzem bei Ärzten und Krankenhäusern noch genauso.

Eines ist aber auch richtig: Der Richter, der entscheiden muss, war selbst nicht dabei und kann einen Sachverhalt, der sich oft über Jahre entwickelt hat, auch im Nachhinein nicht bis ins Detail aufklären. Er muss also zwangsläufig sein Urteil fällen, ohne selbst erlebt zu haben, was die Beteiligten erlebt haben. Hinzu kommt, dass häufig Spezialkenntnisse eine Rolle spielen, sei es über betriebliche Abläufe, über naturwissenschaftliche Zusammenhänge oder schlicht Branchengepflogenheiten, die das Gericht nicht hat und auch nicht haben kann.

Und hier kommen die Anwälte ins Spiel: Um realistisch abschätzen zu können, wie ein Gerichtsverfahren ausgehen könnte, müssen sie selbst erstmal klären, was eigentlich passiert ist, was man davon im Nachhinein noch beweisen kann und was nicht und welche Folgen es hat, wenn bestimmte Dinge im unklaren bleiben. Sie müssen dafür sorgen, dass der Richter die Informationen bekommt, die er braucht und zwar so, dass er sie auch versteht. Und dazu müssen sie mit ihren Mandanten im Vorfeld die Sache ausführlich durchgehen und das, was diese ihnen erzählen, kritisch hinterfragen. Sie sollten sich in die Position des Gegners versetzen und überlegen, wie der wohl argumentieren könnte und aus all dem dann ein realistische Einschätzung gewinnen von dem, was vor Gericht erreichbar ist und wie man das erreichen kann. Und dann im Vorfeld mit dem Mandanten ein realistisches Ziel und eine erfolgversprechende Strategie abstimmen.

„Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand“, ist auch so ein resignativer Spruch. Aber auf hoher See hat man mit einem erfahrenen Kapitän und einem Lotsen, welche die Gewässer und die Wetterverhältnisse kennen und die Fähigkeiten von Schiff und Crew  realistisch beurteilen, gute Chancen, den sicheren Hafen zu erreichen. Und vor Gericht macht ein kompetenter erfahrener Anwalt häufig den entscheidenden Unterschied.