Nach den Anstrengungen der letzten Monate wollen wir alle den Sommer genießen. Okay, es ist ein ziemlich verregneter Sommer, aber nach den drei letzten viel zu heißen und zu trockenen Sommern braucht die Natur den Regen und insbesondere der Wald ist dankbar. Okay, an einigen Stellen ist viel zu viel Regen in viel zu kurzer Zeit gefallen mit entsetzlichen Folgen für die Menschen in den betroffenen Gebieten. Wetterextreme häufen sich eben, nicht nur in weit entfernten Teilen der Welt, sondern auch bei uns und erinnern uns so auf sehr drastische und unmittelbare Weise daran, dass der Klimawandel nicht kommt, sondern längst da ist und wir schnell und massiv gegensteuern müssten.

Um schnell und massiv gegenzusteuern, erscheint die Bedrohung aber nach wie vor zu abstrakt. Und auch die Corona-Pandemie erscheint wie schon letzten Sommer angesichts noch niedriger Inzidenzen derzeit als Bedrohung viel zu weit weg. Daher erlauben wir uns jetzt Freiheiten. Moment – habe ich das wirklich geschrieben? Bin ich jetzt wie gefühlt 95% der Bevölkerung auch schon gedanklich da, dass Unfreiheit in Anbetracht der Bedrohung durch das Virus das „neue Normal“ ist – womit dann auch mal geklärt wäre, was mit diesem Begriff gemeint ist, George Orwell lässt grüßen – und Freiheit etwas, was man sich „erlauben können“ muss???

Weil ich auch in diesem Jahr wieder im Wahlausschuss der IHK Südlicher Oberrhein mitgearbeitet und geholfen habe, die Wahl zur Vollversammlung – dem Parlament der IHK – vorzubereiten, durchzuführen und zu überwachen, war ich vor einigen Wochen zum Gala-Diner anlässlich der Konstituierung der neu gewählten Vollversammlung, Verabschiedung des alten und Amtseinführung des neuen IHK-Präsidenten eingeladen. Etwas mulmig war mir schon zumute, als bei der Registrierung nicht nur meine Einladung, sondern auch der Laborbericht über meinen positiven PCR-Test auf SARS-CoV-2 vom April unter die Lupe genommen wurde. Nach gründlicher Prüfung war man schließlich überzeugt, dass ich tatsächlich „genesen“ bin und hat mir den Zugang gewährt.

Wirklich surreal empfand ich es dann, in einem Festsaal mit mehr als hundert Menschen ohne Abstand und Maske ein festliches Essen zu genießen und, wie es auf solchen Empfängen auch bislang üblich war, mit vielen unbekannten Menschen zusammenzutreffen und sich unmittelbar persönlich kennen zu lernen, ohne mitzählen zu müssen, mit wie vielen Leuten aus wie vielen Haushalten man eigentlich Kontakt hat und ob das jeweils wirklich nötig ist oder nicht. Da muss man sich nach anderthalb Jahren Kontaktbeschränkungen erst mal wieder dran gewöhnen.

Gleichzeitig steigt die Angst, dass es mit dieser „neuen Freiheit“ schon bald wieder vorbei sein könnte, zumal die Inzidenzen ja jetzt schon wieder zwar noch langsam, aber kontinuierlich steigen. Politik, Medien und Gesellschaft schaffen hier mal wieder den bemerkenswerten Spagat, einerseits die Apokalypse an die Wand zu malen, andererseits aber auf ein Wunder zu hoffen, um keine konkreten Maßnahmen einhalten zu müssen.

Das Wunder, auf das man hofft, ist die sogenannte „Herdenimmunität“. Folglich berät man über „Anreize“ für die Impfung, „Privilegien“ für Geimpfte oder „Sanktionen“ für „Impfverweigerer“, anstatt sich mal darüber zu freuen, dass in Deutschland nach einem zugegebener maßen holprigen Start inzwischen über 50% der Bevölkerung doppelt geimpft ist, wir damit die für ihre unbürokratische Impfkampagne hoch gelobten USA überholt haben und auch von den „Impf-Musterländern“ Großbritannien und Israel so weit gar nicht mehr weg sind. Das ist super, und sicher kommen wir auch noch auf 60% oder vielleicht auch 70 % – aber bestimmt nicht die 95%, die in machen Modellrechnungen kursieren, um die Pandemie für beendet erklären zu können.

Außerdem sollte sich inzwischen die Erkenntnis breit gemacht haben, dass genauso nach der einen Mutante vor der anderen Mutante und nach der Pandemie vor der nächsten Pandemie ist, wie nach dem Hochwasser vor dem nächsten Hochwasser und nach der Hitzewelle vor der nächsten Hitzewelle. Also sollte man sich nicht langsam, sondern ganz schnell Gedanken darüber machen, welche Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens man dauerhaft und massiv verändern muss, um mit dieser Situation zu leben, welchen Luxus wir uns einfach nicht mehr leisten können und welche Sicherheiten, die man bislang gewohnt war, es zukünftig leider nicht mehr geben kann. Lockdowns und Social Distancing hätten die notwendige Zeit für Denk- und Transformationsprozesse schaffen können – leider hat man sie dafür jedoch nicht genutzt, und künftig werden sie nicht mehr zur Verfügung stehen, weil langfristig diese Instrumente eine Gesellschaft schneller und nachhaltiger zerstören, als eine Pandemie je könnte.