Unter dieser Überschrift steht ein Artikel in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „DIE ZEIT“, indem über eine Art Tournee polnischer Richter durch das Land berichtet wird, um für Vertrauen in die Justiz zu werben, die von Seiten der polnischen Regierung stark angegriffen wird.

Bei meiner Recherche zu diesem Blog-Beitrag bin ich im Netz auf den Auszug aus einer Rede des Präsidenten des Landgerichts Bayreuth Burghardt anlässlich der Amtswechselfeier am 23.01.2020 gestoßen. Man erinnere sich: keine zwei Monate später waren wir aufgrund der Corona-Pandemie mit Grundrechtseinschränkungen in einem Umfang konfrontiert, das wir uns zu Beginn des Jahres 2020 noch nicht ansatzweise in Deutschland hätten vorstellen können, aber gleichwohl von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird.

Der Landgerichtspräsident sagte:

„In unserem Zeitalter des Populismus und des Schwarz-Weiß-Argumentierens ist fast immer nur die Besorgnis zu hören, dass die Demokratie in Gefahr sei. Dabei sind die, die wir im Blick haben, etwa die Regierungschefs in Brasilien, auf den Philippinen oder auch in den USA, in Ungarn und Polen… doch in der Regel sehr demokratisch gewählt…
Ist es deshalb nicht so, dass gar nicht so sehr die Demokratie in Gefahr ist, sondern ihre oft vernachlässigte oder gern übersehene Zwillingsschwester, nämlich der Rechtsstaat? Und dass dies daran liegt, dass viele der demokratisch Gewählten den Rechtstaat missachten oder gar verachten, nur ihre Klientel bedienen wollen, die Herrschaft des Rechts nicht mehr akzeptieren wollen? Und wo endet das? Ohne Rechtsstaat, meine ich, verkommt die Demokratie zur Diktatur der Mehrheit.“

Was hat das alles jetzt mit Deutschland zu tun? Im weiteren Verlauf seiner Rede beschreibt Herr Burghardt, wie in Deutschland der Begriff „Rechtsstaat“, wenn auch meist ungewollt oder unbewusst, einer Verdrehung oder Umkehrung ausgesetzt wird, indem zum Beispiel die Forderung erhoben wird, dass der Rechtsstaat „mit ganzer Härte“ reagieren oder „Kante zeigen“ müsse – womit zumeist Gesetzesverschärfungen oder besonders hohe Strafen gemeint seien. Dabei ist das Wesen des Rechtsstaates der Schutz des einzelnen vor staatlicher Willkür und die Einklagbarkeit individueller Rechte auch und gerade gegenüber dem Staat. Rechtsstaat, so sagte es der Landgerichtspräsident, ist somit weder Kante, noch per se „hart“, sondern im besten Falle angemessen und gerecht.

Angriffe auf den Rechtsstaat hat es auch in Deutschland seitens der Politik schon gegeben. Und dabei rede ich jetzt nicht von Grundrechtseinschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie, sondern von Exzessen im Rahmen einer aus den Fugen geratenen Asyl,- Zuwanderungs- und Abschiebepolitik. Da haben im Jahre 2018 Behörden tatsächliche oder vermeintliche Gefährder abgeschoben, obwohl Gerichte dies untersagt hatten. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul verstieg sich in diesem Zusammenhang zu der kruden Behauptung: „Richter sollten immer im Blick haben, das ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen“. Da wären wir von polnischen Verhältnissen nicht mehr weit entfernt.

Allerdings ist mir nicht erinnerlich, dass sich diejenigen, die sich aktuell als „Verteidiger der Grundrechte“ aufspielen, damals schon gegen derartige Äußerungen und Praktiken protestiert hätten – oft war das Gegenteil der Fall. Gerade der AfD konnte und kann es gar nicht hart genug sein, wenn es um sogenannte Migranten geht, und dass ausgerechnet die sich jetzt als Hüterin der Verfassung und der Grundrechte aufspielt, ist schlicht und ergreifend verlogen! Aber auch unter den Kritikern der Corona-Maßnahmen, die es vehement ablehnen in die „rechte Ecke“ gestellt zu werden und behaupten, dass sie Angst um den Rechtsstaat haben, ist mir bislang kaum jemand aufgefallen, der diese Angst schon im Jahre 2018 vernehmlich geäußert hätte – da ging es schließlich „nur“ um vermeintliche „Schein-Asylanten“ und nicht um sie selbst.

Aber auch wenn nicht alles, was mancher als völlig verfehlt betrachten mag, deswegen gleich rechts- oder gar verfassungswidrig ist, ist in der Corona-Pandemie eine gewisse Missachtung des Rechtsstaates von Seiten der Politik nicht zu übersehen. Zahllos sind die Äußerungen von führenden Politikern dahingehend, dass in der Stunde der Gefahr Grundrechte hintenanstehen müssen. Und „folgt der Wissenschaft“ wurde verengt auf „folgt den Virologen und Epidemiologen und vergesst alles andere“.

Leider hat sich auch die Justiz größtenteils diesem Narrativ angeschlossen – zwar wurden immer mal wieder politische Entscheidungen korrigiert, insgesamt aber zu wenig und zu spät. Dabei ist es gerade die Justiz, die darauf ausgerichtet ist, auch auf unsicherer Tatsachengrundlage Entscheidungen zu treffen und dabei alle wichtigen Aspekte zu berücksichtigen und gerade dann, wenn einem Aspekt nicht nur von der Politik, sondern auch von einem Großteil der Bevölkerung zu viel Raum eingeräumt wird, korrigierend einzugreifen und Dingen, die auch wichtig sind, aber floskelhaft beiseite gewischt wurden, die Beachtung zu verschaffen, die sie verdienen, bevor ihre Folgen – wie z. B. aktuell bei der psychischen Verfassung vieler Kinder und Jugendlicher – offenkundig werden. Dies hätte umgekehrt die Politiker veranlasst, sehr viel früher sehr viel gründlicher zu arbeiten und wesentlich ausgewogenere Verordnungen zu erlassen. Eine gegenüber der angstgetriebene Politik und Gesellschaft starke und selbstbewusste Justiz hätte uns folglich geholfen, wesentlich besser durch die Corona-Krise zu kommen, als wir das bislang sind.

Gerade angesichts des noch viel größeren Herausforderungen durch den Klimawandel muss daher gelten: Wissenschaftler beraten, Politiker entscheiden und Juristen korrigieren, wenn dabei nicht alles Aspekte ausgewogen berücksichtigt wurden. Deshalb ist für mich der entscheidende Wahlprüfstein, welche Partei zwar einerseits die Erkenntnisse der Wissenschaft ernst nimmt und daraus Maßnahmen ableitet, aber andererseits auch die Herrschaft des Rechtes akzeptiert und die dadurch gesetzten Grenzen nicht als hinderlich empfindet, sondern vielmehr um deren segensreiche Wirkung für eine umfassende Abwägung weiß und deswegen bereit ist, sie aktiv zu verteidigen. Das wird eine schwierige Aufgabe, die auf die Wahl des geringsten Übels hinaus läuft. Aber auch dem muss man sich stellen – und wenigstens haben wir in Deutschland nach wie vor die Wahl zwischen mehreren Übeln, die wesentlich geringer sind als vieles, was in anderen Ländern zur Wahl steht.