Wenn ich das Büro verlasse, höre ich natürlich nicht auf nachzudenken. Manchmal kommen mir die entscheidenden Gedanken beim Hundespaziergang. Beim Musik hören. Oder eben auch unter der Dusche. Dafür notiere ich natürlich keine Arbeitszeit, das ist mit meiner Vergütung abgegolten.

Aber ich bin ja auch selbstständig. Bei Angestellten ist das nicht ganz so einfach. Zumindest wenn es nach dem Europäischen Gerichthof (EuGH) geht – vielmehr dem, was einige Kommentatoren aus dessen Urteil vom 14. Mai 2019 machen.

Dieses Urteil hat Deutschland ja in helle Aufregung versetzt. Gewerkschaften jubilieren, Arbeitgeberverbände fürchten nicht mehr und nicht weniger als den Untergang des christlichen Abendlandes, mindestens aber den Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft. Denn deren vermeintliche Säulen – Vertrauensarbeitszeit, Home-Office, Außendienst und eben Denken nach Feierabend – sollen in Gefahr sein, wenn das wahr wird, was der EuGH da entschieden hat: Sämtliche Arbeitszeiten seien fortan lückenlos zu erfassen.

Aber Moment mal, hat der EuGH das überhaupt so gesagt? Anstatt die nervösen Meldungen der Online-Redakteure, die sich in den Tagen nach der Urteilsverkündung gefühlt im Minutentakt gejagt haben oder auch die Stellungnahmen aller möglichen  Verbände zu lesen, könnte man ja mal das Original-Urteil des EuGH lesen. Das steht auf seiner Homepage und zwar genau hier:

https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:62018CJ0055&from=DE

Da das für den juristischen Laien etwas sperrig ist (weswegen es die meisten Journalisten wohl auch nicht lesen, sondern sich mit der Pressemitteilung des EuGH begnügen und dem, was andere dazu sagen), erläutere ich jetzt, worum es wirklich ging:

Der Ausgangsfall spielt in Spanien. Die Akteure sind die Deutsche Bank (die es auch in Spanien gibt), eine spanische Gewerkschaft und zwei oberste spanische Gerichte. Die Gewerkschaft verlangte von der Deutschen Bank die Aufzeichnung der Arbeitszeiten ihrer Angestellten – das geht nach spanischem Recht. Allerdings sagt das spanische Recht auch, dass nicht die reguläre Arbeitszeit, sondern nur die Überstunden aufgezeichnet werden müssen – zumindest interpretiert das spanische Verfassungsgericht das entsprechende spanische Gesetz so. Und deshalb winkte die Deutsche Bank ab und verwies darauf, dass sie die gewünschten Aufzeichnungen gar nicht machen und folglich auch nicht herausgeben müsse. Dagegen klagte die Gewerkschaft und der Rechtsstreit landete vor dem obersten spanischen Zivilgericht. Dieses wiederum war anderer Auffassung als das Verfassungsgericht, an dessen Rechtsprechung aber gebunden. Was also machte das oberste spanische Zivilgericht in dieser Situation? Dasselbe, was auch unser deutsches Bundesarbeitsgericht macht, wenn es anderer Auffassung ist als das Bundesverfassungsgericht (was insbesondere im kirchlichen Arbeitsrecht durchaus mal vorkommt): Es legte den Fall dem EuGH vor und fragte an, ob das spanische Recht in seiner Auslegung durch das spanische Verfassungsgericht in diesem Punkt mit europäischem Recht eigentlich vereinbar ist und wirklich nur Überstunden, nicht aber normale Arbeitszeit aufgezeichnet werden müssen. Der EuGH sagte dazu in höflichen, wohlgesetzten juristischen Floskeln, aber in der Sache sehr klar, dass diese Interpretation natürlich völliger Unsinn und mit den europäischen Richtlinien, auf denen das Arbeitszeitrecht in allen Ländern der EU beruht, keineswegs vereinbar sei. Diese schreiben gewisse Höchstarbeitszeiten und gewisse Pausen und Ruhezeiten vor. Und um zu überprüfen, ob diese eingehalten würden, müssten die Arbeitszeiten natürlich aufgezeichnet werden. Und überhaupt: Woher wolle man eigentlich wissen, dass Überstunden anfielen, wenn man vorher die reguläre Arbeitszeit nicht erfasst habe? Die spanische Regelung so, wie sie das dortige Verfassungsgericht interpretiere, könne also gar nicht funktionieren.

Wenn man das so liest, ist das nicht mehr und nicht weniger als gesunder Menschenverstand, den viele Menschen uns Juristen zwar nicht zutrauen, der dann aber doch die allermeisten Urteile leitet.  Von Vertrauensarbeitszeit, Außendienst, Home-Office und Gedanken unter der Dusche steht in diesem Urteil hingegen nichts. Das alles taucht nur in den deutschen Medien auf. Was im Urteil jedoch ausdrücklich steht ist, dass der nationale Gesetzgeber (also auch der deutsche Bundestag) bei der Umsetzung der europäischen Vorschriften Spielräume hat und durchaus z. B. nach Größe der Unternehmen und Besonderheiten der Branche differenzieren kann. Und in Deutschland müssen auch jetzt schon in Betrieben jedenfalls bei Schichtarbeit die Arbeitszeiten erfasst werden und in vielen Niedriglohn-Branchen, in denen die Einhaltung des Mindestlohnes ein Thema ist, auch. So viel wird sich für uns also gar nicht ändern.

Natürlich werden sich Gesetzgebung und Rechtsprechung damit beschäftigen müssen, wie man eigentlich Arbeitszeiten im Home-Office und im Außendienst erfasst. Aber auch dafür gibt es ja schon Lösungen, die praktiziert werden und funktionieren. Und wenn die oder der Angestellte sich Unterlagen mit nach Hause bringt, um sie abends vor der wichtigen Besprechung am nächsten Vormittag nochmal in Ruhe durchzuarbeiten, von zuhause aus noch geschäftliche Mails checkt oder auch abends noch Telefonate führt, wird man sich Gedanken darüber machen müssen, ob das Arbeitszeit ist und wie man die erfasst. Entscheidend abhängen dürfte das davon, wie frei die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter hier ist bei der Frage, ob überhaupt, wann und wie sie oder er das macht. Aber hier ist zunächst der Gesetzgeber gefragt.

Sicher keine Arbeitszeit ist es indes, die Gedanken kreisen zu lassen. Denn das machen sie sowieso. Und wenn einem der entscheidende Geistesblitz morgens unter der Dusche kommt, wird man das Duschen auch zukünftig nicht als Arbeitszeit erfassen müssen. Außer man arbeitet z.B. in einem Braunkohle-Tagebau.