Letzte Woche bin ich zu einem Gerichtstermin nach Rastatt gefahren. Die Nachricht, dass der Gegenanwalt plötzlich erkrankt ist und der Termin ausfallen musste, hat mich erst erreicht, als ich schon dort eingetroffen war. Ich hätte mich jetzt darüber ärgern können, dass ich umsonst durch die Gegend gefahren bin. Ich hätte mich sofort auf den Rückweg machen können, um wenigstens die Zeit, die die Verhandlung ansonsten gedauert hätte, im Büro für anderes zu nutzen.

Als ich aber am Gehen war, fiel mir auf, dass im Residenzschloss Rastatt nicht nur das Gericht, sondern auch die Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte untergebracht ist. Und dass dort wiederum gerade eine Sonderausstellung zu sehen unter dem Titel „Die Rastatter Prozesse – NS-Verbrechen vor Gericht“.

Bis dahin wusste ich noch nicht einmal, dass es sogenannte „Rastatter Prozesse“ gab. Da mich das Thema Nationalsozialismus und dessen Aufarbeitung seit Jugend bewegt, nahm ich es also als Wink des Schicksals, dass ich jetzt in Raststatt war und etwas Zeit hatte und beschloss, diese Ausstellung zu besuchen.

So erfuhr ich, dass in Rastatt das oberste Gericht der damaligen französischen Besatzungszone seinen Sitz hatte und die in dieser begangenen NS-Verbrechen juristisch aufarbeitete. Hierbei ging es unter anderem um Geschehnisse in Außenlagern des KZ Natzweiler-Struthof in Südwestdeutschland. Und in diesen Rastätter Prozessen wurde schon damals der Gedanke vertreten, dass jede und jeder, der durch seine Tätigkeit dazu beiträgt, dass der Lagerbetrieb als solcher funktioniert – also nicht nur die Wachleute, sondern auch Köche und Sekretärinnen – Beihilfe zu den im Lager begangenen Verbrechen leisten, auch wenn sie selbst sich aktiv nicht daran beteiligt haben, aber sehr wohl davon wussten und trotzdem auf ihren jeweiligen Positionen weitergearbeitet haben.

Eine Rechtsauffassung, die bei der Aufarbeitung von NS-Verbrechen durch die Gerichte der frühen Bundesrepublik ausdrücklich nicht vertreten wurde, weswegen es zu lange Zeit kaum zu Verurteilungen durch die deutsche Justiz kam. Zu einer Rückbesinnung auf die Grundsätze, die schon das Rastatter Gericht für die französische Besatzungszone entwickelte, kam es durch die deutschen Gerichte erst wieder mit dem Demjanjuk-Prozess 2010/2011, vom Bundesgerichtshof bestätigt wurden sie erst 2016 im Verfahren gegen SS-Unterscharführer Oskar Gröning.

Gerade die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und der Mitverantwortung ganz normaler Menschen und Bürger hat mich veranlasst, z. B. in sozialen Medien stets nachdrücklich gegen rechtsextreme, insbesondere rassistische Positionen aufzubegehren. Es war dann für mich ein Schock, dass im März 2020 selbstverständliche Grundrechte in frappierender Geschwindigkeit und ohne große Diskussion bis dahin nicht für möglich gehaltenen Einschränkungen unterworfen wurden – nicht etwa, weil plötzlich rechtsextremistische Gruppierungen die Macht übernommen hatten, sondern weil angesichts einer weltweiten Pandemie nicht nur bei den politischen Entscheidungsträgern, sondern auch in Justiz, Medien und Gesellschaft Panik nicht nur an die Stelle der Vernunft trat, sondern geradezu als das einzig vernünftige bezeichnet wurde.

Und obwohl ich mich stets gegen rechtsextreme und rassistische Positionen gewendet hatte und jetzt aus meiner Sicht in gleicher Weise für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie eintrat, indem ich eine Diskussion über eine Politik einforderte, die anfänglich der Minimierung von Inzidenzen nahezu alles andere unterordnete, sah ich mich plötzlich selbst von so manchem in die rechte Ecke gestellt. Dabei habe ich nie zusammen mit Rechtsextremisten demonstriert – dem kann ich mir absolut sicher sein, weil ich gar nicht zu Demonstrationen gegangen bin. Ich habe auch nie irgendwelches Verständnis für rechtsextremistische Positionen gezeigt, sondern ganz im Gegenteil denen weiterhin vehement widersprochen. Und ich habe geradezu körperlich darunter gelitten, wenn ausgerechnet rechte Scharfmacher sich plötzlich zu den Bewahrern von Grund- und Freiheitsrechten aufgeschwungen haben, die sie andererseits Menschen aberkennen wollen, die anderer Auffassung oder gar anderen Glaubens, anderer Herkunft oder anderer Hautfarbe sind als sie selbst und sich auch noch entblöden, sich mit Widerstandskämpfern im Dritten Reich zu vergleichen, die für Flugblätter hingerichtet wurden, während die schlimmste Repressalien, mit der sie selbst rechnen müssen, eine Geldbuße und ein Demonstrationsverbot sind, wenn sie zum wiederholten Male sich dreist über Abstands- und Hygieneregeln hinwegsetzen.

Genauso besorgt es mich aber, wenn sich auch jetzt wieder Stimmen mehren, die mit Blick auf steigende Inzidenzen und knapp werdende Intensivbettenkapazitäten trotz des Umstandes, dass immerhin zwei Drittel der Bevölkerung durch Impfungen geschützt sind (und Ältere bzw. besonders Gefährdete, bei denen die Impfungen länger zurückliegen, jetzt durch Booster-Impfungen zusätzlich geschützt werden), wieder stärkere Einschränkungen fordern. Ich war selbst an Covid-19 erkrankt und weiß, wovon ich rede. Ich habe mich auch anschließend impfen lassen, halte dies für sinnvoll und ermuntere jeden, dies zu tun. Ich glaube aber auch an die Wirksamkeit meiner Immunisierung und denke daher nicht, dass mir Ungeimpfte gefährlich werden könnten. Natürlich ist mir klar, dass ein Restrisiko besteht und es auch nach einem sogenannten Impfdurchbruch zu einem schweren Verlauf kommen könnte – ich könnte aber auch einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erleiden oder schlicht einen schweren Verkehrsunfall haben.

Und deshalb fällt es mir schwer, die Auffassung zu respektieren, die die Weigerung, sich impfen zu lassen, nicht nur als Gefahr für die Ungeimpften selbst, für andere Menschen, die nicht geimpft sind und evtl. noch für das Gesundheitssystem als ganzes betrachtet, wenn es zu viele Ungeimpfte gibt, sondern auch als Gefahr für Geimpfte und somit letztlich für sich persönlich. Und die Haltung, auch bei Veranstaltungen, für die schon 2G gilt, nicht nur weiterhin Abstände und Masken, sondern ergänzend auch noch Corona-Tests vorschreiben zu wollen, kann ich auch nicht so recht nachvollziehen. Allerdings sollte man auch all dies als Ausdruck einer diffusen, irrationalen Angst akzeptieren – das wäre dann aber wohl nichts anderes als die diffuse, irrationale Angst vor möglichen Nebenwirkungen und Spätfolgen von Corona-Schutzimpfungen, die inzwischen weltweit millionenfach verabreicht wurden, so dass es schlicht nicht sein kann, dass hier bislang irgendetwas übersehen oder gar absichtlich verschwiegen wurde.

In die rechte Ecke stellt sich selbst, wer seine eigenen Ängste zum Maß aller Dinge erhebt und die Ängste anderer, so irrational sie aus seiner Sicht auch sein mögen, nicht respektiert, sondern gar als Bedrohung wahrnimmt, gegen die es mit Druck und Zwang oder eben „zivilem Ungehorsam“ anzukämpfen gälte. Dabei ist es völlig egal, aus welcher Richtung das kommt und um welche Ängste es sich jeweils handelt. Die rechte Ecke zu verlassen, bedeutet sich also darüber bewusst zu werden, dass derjenige mit einer anderen Auffassung seine Ängste für genauso berechtigt hält wie man selbst die eigenen und niemand das Recht hat, seine eigenen Ängste für wichtiger zu nehmen und die der anderen einfach beiseite zu wischen. Erst auf dieser Basis ist eine sachliche und respektvolle Diskussion überhaupt möglich.